Montag, 15. Mai 2006
Bücher waren kleine Kristalle mit gespeichertem Inhalt
Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Buchhandlung. Dort gab es nicht etwa Bücher. Seit fast einem halben Jahrhundert wurden keine mehr gedruckt. Und ich hatte mich so sehr darauf gefreut nach den Mikrofilmen, aus denen die Bibliothek der "Prometheus" bestand. Pustekuchen. Keiner konnte mehr in Regalen stöbern, schwere Bände in der Hand wiegen, ihr Volumen richtig auskosten, das den Umfang des Lesevergnügens voraussagte. Die Buchhandlung erinnerte an ein elektronisches Labor. Bücher waren kleine Kristalle mit gespeichertem Inhalt. Lesen konnte man sie mit Hilfe eines Optons. Der sah einem Buch sogar ähnlich, allerdings mit nur einer einzigen Seite zwischen den Einbanddeckeln. Berührte man dieses eine Blatt, so erschienen nacheinander die Textseiten in ihrer Reihenfolge. Aber es wurde – wie mir der Roboter-Verkäufer sagte – von den Optonen wenig gebrauch gemacht. Das Publikum zog die Lektonen vor – sie lasen laut vor, und man konnte sie auf eine beliebige Stimmart, Tempo und Modulation einstellen. Nur wissenschaftliche Publikationen eines recht beschränkten Bereiches wurden noch auf Plastseiten, die Papier imitierten, gedruckt. Daher konnte ich alle meine Einkäufe in einer Tasche unterbringen, obwohl es an dreihundert Titel waren. Eine Handvoll kristallartiger Körner – so sahen die Bücher aus. Ich suchte mehrer historische und soziologische Werke heraus, etwas über Statistik, Demographie und über Psychologie: das, was mir das ADAPT-Mädchen empfohlen hatte. Einige größere Handbücher der Mathematik, sie waren nur ihrem Inhalt, nicht ihrem Umfang nach größer. Der mich bedienende Roboter war selber eine Enzyklopädie: Er war - wie er mir sagte – durch elektronische Kataloge mit den Mustern sämtlicher Werke in der ganzen Welt unmittelbar verbunden. In der Buchhandlung befanden sich eigentlich nur einzelne >>Buchexemplare<<, und wenn jemand sie brauchte, wurde der Inhalt des angeforderten Werkes in einem kleinen Kristall festgehalten.
Die Originale – Kristallmatrizen – waren unsichtbar, sie befanden sich hinter hellblau emaillierten Stahlplatten. Also wurde das Buch sozusagen jedes Mal neu gedruckt wenn jemand es brauchte. Probleme von Auflagen, ihrer Höhe oder des Vergriffenseins hatten aufgehört zu existieren. Es war wirklich ein großer erfolg. Aber mit tat es leid um die Bücher.

Aus: Stanislaw Lem: "Transfer" (1961)

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Er war schon sehr genial. Dinge zu wissen zu denen ich noch 5 Jahre tot war die aber sicher Realität waren ist schon enorm.
Hat er den USB Stick erfunden oder ist die CD das (runde) Kristall.
Danke für den Auszug

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er hat all das erfunden, und nichts davon. er hat einfach nur seine schlussfolgerungen zu papier gebracht. die sind nicht immer richtig, aber immer sehr zutreffend.

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